Gestern habe ich einen regelrechten Kino-Marathon hingelegt: Ich war in Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht - und dieser Film dauert geschlagene 4 Stunden. Ich habe gezögert, diesen Post mit Filmtipp zu überschreiben, denn einen solch langen Film kann man nicht uneingeschränkt jedem empfehlen.
Auch mir wurde es zwischendurch ein wenig lang. Kurz vor der Pause nach 2 Stunden dachte ich kurz: Und jetzt geht es nochmal so lang?!? Puh.
Ich bin froh, dem Impuls nicht nachgegeben zu haben und sitzengeblieben zu sein, gerade die zweite Hälfte hat mir ausgesprochen gut gefallen. Der Film ist ein beeindruckendes Portrait einer untergegangenen Welt und einer fremden Zeit.
Er spielt in den frühen 40er Jahren des 19. Jahrhundert im Hunsrück. Im an der Kinokasse ausgelegten Flyer erhält man hilfreiche und kompakte Informationen zu den historischen Hintergründen der fiktiven Geschichte: steigende Bevölkerung, Realerbteilung und damit zu kleine landwirtschaftliche Betriebe, Missernten und unangemessene Abgabenlast führten zu sozialem Elend und Hunger. Die Menschen verließen in Scharen ihre Heimat - man sieht das an den beständig am Horizont vorbeiziehenden Pferdetrecks - und suchten in einer fernen und sagenumwobenen Welt, wenn nicht ihr Glück so doch ein neues Leben: in Brasilien, das aktiv um Siedler warb. Gerade der Hunsrück war, so steht es im Filmflyer, von dieser Auswanderung stark betroffen: Im Jahr 1846 begannen 1230 Familien in Südamerika ein neues Leben, das unter der Maxime der Bremer Stadtmusikanten steht: Etwas besseres als den Tod finden wir überall. Sie verlassen ihre Heimat, ohne Wiederkehr und Wiedersehen.
Aber die Menschen wollen nicht nur ihrem materiellen Elend entkommen, sie sind infiziert mit den Gedanken der Französischen Revolution und suchen Freiheit. Erst seit kurzem herrscht allgemeine Schulpflicht, Bücher sind in der ländlichen Welt noch mindestens obskur, wenn nicht verpönt, aber die Idee war in der Welt: Sein Leben selbst in die Hand nehmen und seine individuellen Talente entfalten.
Der Film dauert lang, aber wenn man sich darauf einlässt, taucht man ein in eine Welt und Gesellschaft, die noch gar nicht so lange her ist. Er ist wuchtig und beeindruckend und von Anfang bis Ende ungewöhnlich und besonders. In Schwarzweiß gedreht scheinen mitunter Farben auf und fokussieren auf Besonderheiten und Besonderes, eine blaue Wand oder ein glühendes Hufeisen. Durch die Länge, die Mundart und die Konzentration auf ein Dorf werden die Hauptfiguren sehr anschaulich, man ist buchstäblich bei ihnen, in der Enge der Häuser und der Dörfer.
Sehr berührt hat mich die Schilderung der immensen Kindersterblichkeit, die anfangs nur angedeutet wird und sich verdichtet um schließlich handgreiflich zu werden: Das ganze Dorf folgt den kleinen Särgen und den betroffenen Elternpaaren und Familien zur Kirche, um sich von gleich mehreren Babys zu verabschieden. Die Predigt des Pfarrers - "Sie sind nicht gestorben, nur vorgegangen in das Paradies" - provoziert Widerspruch, wird nicht mehr von allen schicksalhaft und gläubig akzeptiert. Nur der Arzt, der allein an einem Tag sieben Kinder hat sterben sehen, ahnt, dass er die Seuche Diphterie von einem kleinen Patienten zum anderen trägt, aus dieser Ahnung wird erst später Gewissheit.
Dem Film gelingt bei aller Eindringlichkeit doch eine gewisse Leichtigkeit. Dies liegt an der Hauptfigur Jakob, der "schon immer" anders war, als Kind schon Löcher in die Luft starrte und sich geschickt den Zumutungen und Ansprüchen des Vaters entzieht. Er ist ein Eigenbrötler, das Lieblingskind der Mutter die ihn bedingungslos liebt und in Schutz nimmt - und selbst 6 Kinder verloren und nur drei durchgebracht hat -, der im Selbststudium die Neue Welt kennen und lieben lernt. Unglaublich, dass der Hauptdarsteller kein professioneller Schauspieler ist.
Der Film zeigt eindringlich die Umstände, die Menschen vor gerade einmal anderthalb Jahrhunderten bewogen haben, diesem Land den Rücken zu kehren und am anderen Ende der Welt Ihr Glück zu suchen - womit er einen Bogen schlägt zu den heutigen Flüchtlingsdramen im Mittelmeer.
Der Film ist auch auf meiner "unbedingt-sehen"- Wunschliste. Leider habe ich die anderen Heimat-Filme (noch) nicht gesehen, aber ich denke, das macht keinen riesengroßen Unterschied. Gut, dass du erwähnst, dass man auch die zweite Hälfte anschauen sollte - 4 Stunden sind ja schon sehr lang...
AntwortenLöschenNein, das denke ich auch. Ich glaube, ich habe lediglich den dritten Teil der Trilogie gesehen. Einen schönen Kinoabend Dir!
AntwortenLöschenDanke für deine Empfehlung.
AntwortenLöschenIch habe die anderen Edgar Reitz "Heimat" und "Neue Heimat" - Filme alle gesehen und war "damals" schon sehr angetan. Sie wurden mal im TV ausgestrahlt in überschaubaren Einheiten. Sie haben mich tief berührt und ich denke oft daran.
Also, den neuen Film werde ich mir unbedingt demnächst ansehen.
viele Grüsse, Birgit
Danke für Deine Einblicke in den Film. Ich wohne im Hunsrück, ca. 15 km von dem Dorf entfernt, wo die Dreharbeiten stattfanden. Es war schon spannend, was für ein Aufwand für die Dreharbeiten betrieben wurde. Inzwischen sind hier quasi alle im "Die andere Heimat"-Fieber. Den lästigen Kommerz, weil jeder was vom Kuchen abhaben will, eingeschlossen...
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Claudia
Vielen Dank für deine tolle Filmkritik, bin jetzt am Überlegen, wie ich die ganze Familie dazu bewegt bekomme...Fsk ab 6, hälst du das für realistisch?
AntwortenLöschenLG
Wiebke