Quelle: hier
Die Aussage: "Ich stille mein Kind nicht" kommt heute einer Selbstanprangerung gleich. Stillen ist ein Muss, Distinktionsmerkmal der guten, weil fürsorgenden und liebenden Mutter. In bestimmten Kreisen gehört es einfach dazu zu stillen und wer sich dem entzieht, womöglich freiwillig und mit Bedacht, steht im Generalverdacht: nicht genug zu geben, nicht genug zu lieben, nicht genug zu tun - für sein Kind, dem man doch alles schuldig ist. Man will ja nur das Beste für sein Kind. Und Stillen - das weiß doch jedes Kind - ist nunmal das Beste, die Creme de la Creme, der Goldstandard.
Nun, ich gehöre zu diesen Müttern: Ich habe meine Kinder nicht* gestillt.
Ich bin Stillverweigerin. Oha. Etwas schlimmeres kann man seinem Kind kaum antun, wenn man die veröffentlichte Meinung und die gängigen Mütterdiskurse als Maßstab nimmt.
Das Stillen unterliegt gewissen Moden: je nach sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen wurde mal mehr, mal weniger gestillt. Ich wurde zum absoluten Still-Tiefstand Mitte der 1970er Jahre geboren und gehöre damit selbst zur Generation von Kindern, die tendenziell nicht gestillt wurden. "Das war damals einfach nicht üblich" - diesen Satz haben sicher viele meiner AltersgenossInnen gehört. Es folgte eine Stillrenaissance, die bis heute anhält und gespeist wurde durch eine ökologische Rückbesinnung und neue Natürlichkeit, einher gehend mit der Emanzipation von den strikten, als frauen- und kinderfeindlich angesehenen Vorgaben des medizinischen Personals und anderer Autoritäten. Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Kind war ohne Frage eine Befreiung aus dem engen Korsett medizinisch-patriarchaler Vorgaben, Regeln und Praktiken von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft.
Mittlerweile jedoch hat sich diese Befreiung in ihr Gegenteil verkehrt: Es herrscht Stillzwang! Statt Selbstbestimmung gilt es, Frauen, ob sie wollen oder nicht, über die unzähligen Vorteile des Stillens und die ausschließlichen Nachteile der Flaschenernährung "aufzuklären". Es ist eine neue Dominanz von ExpertInnen zu beobachten, die den Frauen erklärt, was sie zu tun, zu fühlen und zu unterlassen haben, was "natürlich" und "normal" ist - und was nicht. Einher geht diese Expertenorientierung mit einer Traditionalisierung des Mutterbildes.
Am extremsten vertritt dieses die La Leche Liga (LLL), eine internationale Organisation, die in 78 Ländern tätig ist und Beraterstatus bei UNICEF und WHO genießt. Internationale Empfehlungen und Aktionspläne lesen sich wie direkt aus der Feder der LLL geflossen. So empfiehlt die WHO in den ersten sechs Monaten das "ausschließliche" Stillen und darüber hinaus das Weiterstillen (unter Gabe angemessener Beikost) bis zum zweiten Lebensjahr - und darüber hinaus! Das Stillen ist idealerweise durch beide Partner dieser "Stillbeziehung" im gegenseitigen Einvernehmen zu beenden. Die WHO empfiehlt also das Langzeitstillen (LZS) von Kleinkindern, das de facto nur von einer Minderheit der Frauen praktiziert wird. Mich erinnert das fatal an die katholische Kirche, deren Dogmen - etwa zu Verhütung und Sexualmoral - über den Daumen gepeilt 99,9 % der Mitglieder nicht praktizieren.
Die LLL propagiert genau dieses von der WHO empfohlene LZS. In ihrem "Handbuch für die stillende Mutter" ist viel die Rede von biologischen Programmen und natürlichen Verhaltensweisen sowie den Bedürnissen von Baby und Mutter, die - von Natur aus, klar - identisch sind.
Mutter und Kind werden als untrennbare soziale und biologische (!) Einheit angesehen. Da passt kein Blatt zwischen -nicht einmal schon gar nicht der Vater. Der Vater wird in der Ideologie der Stillorganisationen LLL und AFS (Arbeitsgemeinschaft freier Stillgruppen) abgeleitet von der Mutter betrachtet, er ist "auch" wichtig, jedoch nie selbständiger Akteur, sondern ermöglichender Dritter einer harmonischen Stillbeziehung zwischen seiner Frau und seinem Kind. Die Debatte konzentriert sich auf die Mutter-Kind-Beziehung, die er möglichst nicht stört, im Idealfall unterstützt und aus der er weitgehend ausgeklammert ist. Klassische Geschlechterrollenarangements werden reproduziert, in der die Frau für Ernährung, Liebe und Fürsorge zuständig ist und der Vater für die Abteilung "Spaß und Spiel". Er spielt eine ergänzende und damit lässliche, zweitrangige Rolle im Leben des Babys.
Die Mutterrolle wird biologisiert und naturalisiert - und damit die faktische Wahlfreiheit "Brust oder Flasche - oder irgendwas dazwischen?" unterminiert.
Aber was heißt schon Wahlfreiheit? Wer die einfordert ereilt den Ruch des Egoismus - seit je her das schlimmste Stigma, das einem als Mutter in Deutschland aufgezwängt werden kann. "Du willst nicht das Beste für Dein Kind - und ich definiere was das Beste ist! -? Du RABENMUTTER!" Es geht um alles: Die Mutter hat es schließlich in der Hand, ob das Kind gesund bleibt. Wer kann dazu schon 'Nein' sagen?
Im Zentrum der Debatte stehen die dem Stillen zugeschriebenen positiven Gesundheitseffekte. Die Liste ist lang und wird ständig länger, hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Stillen schlau macht und jeder weiß, dass es vor Übergewicht, Allergien und Infektionen "schützt". Stillen werden langfristige gesundheitspräventive Wirkungen für Mutter und Kind zugesprochen. Allein die Länge der Liste der positiven Gesundheitseffekte scheint deren Evidenz zu belegen. Es wird suggeriert, dass statistische Zusammenhänge - in kausaler Ableitung - einen KONKRETEN Gesundheitseffekt haben.
Aber, so ist in den Foren und in der Ratgeberliteratur unisono zu lesen: "Stillen ist ja so viel mehr" - Stichwort: Bindung. Der Mutter wird nicht nur die Verantworung für die gesundheitliche, sondern auch für die psychosoziale Entwicklung zugesprochen, die sie durch das Stillen gezielt determinieren kann. Klar scheint: Wer (bewusst) nicht stillt, nimmt in Kauf, dass sein Kind zum emotionalen Krüppel wird - eben so wie wir Kinder der 70er - die lost generation, klar!
Die Debatten in den Mütterforen - beispielsweise im Stillforum bei eltern.de oder bei stillen-und-tragen.de - gipfeln mitunter in Sätzen wie: "Stillen gehört zum Muttersein dazu. Wer nicht stillen will, sollte sich überlegen, ob man überhaupt ein Kind haben will oder es nicht besser lässt." Puh... in welchem Jahrhundert leben wir nochmal?
Die Ratgeberliteratur hat sich weitestgehend die gerade skizzierte Sichtweise auf Mutter-(Vater)-Kind zu eigen gemacht. Stillen ist der normative Bezugspunkt, selbst in sehr moderaten Mainstream-Ratgebern (etwa aus dem GU-Verlag), in denen es sowohl ein Still- als auch ein Fläschchen-Kapitel gibt, in dem es dann heißt: "Auch wer nicht stillen kann oder will, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben,..." womit natürlich suggeriert wird, dass es durchaus angebracht sein könnte, ein schlechtes Gewissen haben könnte.
Deshalb war ich sehr gespannt, als ich vor Kurzem die Ankündigung las für einen Ratgeber "für Mütter, die nicht stillen wollen oder können" mit dem Titel: "Wie, Du stillst nicht?" Auch wenn gerade kein akuter Bedarf besteht habe ich mir das Buch umgehend bestellt und in einem Rutsch durchgelesen.
In meiner Bewertung beim großen online-Versand werde ich sehr wohlwollend berücksichtigen, dass es dieses Buch überhaupt gibt. Das ist ein Zeichen und ohne Frage schonmal prima. Die Autorin hält sich auch weitgehend an ihren Anspruch, Frauen kein schlechtes Gewissen wegen des Nicht-Stillens machen zu wollen und sie bei ihrem Weg zu unterstützen. Soweit also erstmal alles gut, sowas hat womöglich gefehlt auf dem Ratgebermarkt.
Jetzt kommt jedoch - natürlich - das große ABER: Abgesehen vom Stillen wird hier dann doch die ganze biologistische Mutterideologie verkauft. Tenor: Man braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man nicht stillt. Das nicht. Dafür aber, wenn man die Defizite, die man durch das Nicht-Stillen erzeugt, nicht mit voller Wucht ausgleicht. Sprich: Wenn Du schon nicht stillst, musst Du alles daran setzen, die drohende Bindungsschwäche Deines Kindes zu verhindern. Aus diesem Grund empfiehlt die Autorin Frauen, die nicht stillen das sogenannte Beziehungsstillen, um die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Was das ist? Nun ja, das Kind anzulegen, ohne es zu stillen, also ohne es an der Brust zu ernähren, als Schnullerersatz. Das Stichwort, das die Autorin liefert, lautet: Mutterleibservice. Und den kann nunmal - na, wer errät es? - nur die Mutter leisten:
Wie war das nochmal mit dem Expertentum?
Mir geht es - nur für den Fall, dass ich in den Verdacht gerate - nicht darum, pauschal das Stillen zu verurteilen oder ein Loblied auf die Flasche zu singen. Mich interessiert die öffentliche Diskussion und was sie mit Frauen und Paaren macht. Ich finde, erwachsene Frauen sollten sich selbstbewusst und eigenverantwortlich um ihr Kind kümmern - und die betroffenen Väter ebenso. Mir schwebt vor, dass Frauen und Männer im besten Sinne aufgeklärt an die Sache mit dem Stillen rangehen - wie an alles andere möglichst auch - und sich darüber klar sind, was das eine wie das andere möglicherweise für sie, ihre Beziehung und die Zukunft als Familie bedeutet. Ich möchte, dass Frauen nicht für dumm verkauft werden.
So wie in dem Buch: "Wenn Sie nicht stillen, muss Ihnen klar sein, dass einer von Ihnen - Ihr Partner oder Sie - nachts aufstehen muss, um das Fläschchen zu kochen." Ein Argument, das in Mütterforen immer wieder auftaucht, Stichwort: Flasche geben ist ja so unpraktisch. Warum die im nächsten Absatz genannte Thermoskanne, die man sich anschaffen sollte, um unterwegs eine Flasche zuzubereiten, nicht auch des nachts zum Einsatz kommen kann, bleibt unklar. Vermutlich stört sie die Bindung zwischen Mutter und Kind. Denn diese ist auf jeden Fall eines: magisch!
In Vorbereitung dieses Posts habe ich mich nochmal umgeschaut im WWW und eine kleine Sammlung sehr lesenswerter Artikel und Posts zum Thema erstellt. Bitte sehr:
Nicole Althaus analysiert sehr kurzweilig den Kreuzzug im Namen der Muttermilch und MALMOE geht in "Mein Busen gehört mir" der Frage nach Wie Medizin, Verantwortungsdiskurse und Naturalismus stillunwillige Frauen moralisch erdrücken. Bereits 2009 ist ein Essay im Süddeutsche Magazin erschienen, der mich sehr amüsiert hat und der damals böse in der Stillcommunity diskutiert wurde: Die Nippel der Welt. Auf der Suche nach einer pragmatischen Hebamme, die meine Entscheidung nicht zu stillen "akzeptiert" (soweit sind wir schon...), sprach ich mit der Hebamme, die L1 auf die Welt geholt hatte. Im Laufe des Gesprächs erzählte sie mir, dass sie die Autorin Susanne Frömel betreut hatte und ihren Artikel wirklich gelungen und - oha! - lustig fand. Ich glaube, eine solche Hebamme zu finden ist wie die Nadel im Hauhaufen... Blogposts, die das Thema aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven und persönlicher "Betroffenheit" schildern, habe ich natürlich auch gesammelt: Regenrot schreibt über "Die dunkle Seite der Babyernährung" und greift den bösen Begriff der Stillnazis auf, den Susanne Frömel in der SZ schon benutzt hatte. Glücklichscheitern verwahrt sich gegen allzu übergriffige Fragen zum persönlichen Still- oder Nichtstillverhalten, ebenso wie Dr. Indie. Auch schön: Die Liste der häufigsten und nervigsten Fragen während Schwangerschaft und kurz nach der Geburt.
Hier und hier finden sich Artikel über den Umgang von nicht-stillenden Müttern mit dem gesellschaftlichen Druck, "der auf ihnen lastet", wie man so schön sagt. Frank Furendi, Soziologe an der Uni Kent, plädiert für das Ignorieren von Expertenmeinungen als Basis für die Koexistenz verschiedener Erziehungsstile. Und fuckermothers verwahrt sich in einem offenen Brief an die Nationale Stillkommission gegen den übergriffigen Griff an die Brüste, diskutiert die sich wandelnden Stillempfehlungen und setzt sich mit der Fragwürdigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse auseinander.
Last but not least: Der Lesetip "Der Konflikt" von Elisabeth Badinter, das ich, unmittelbar nach Erscheinen, im Wochenbett mit L2 gelesen habe - eine Zeit, die ich in wunderbarer, entspannter Erinnerung habe, trotz - oder gerade wegen... - meines renitenten Nicht-Stillens.
Melleni
Das Stillen unterliegt gewissen Moden: je nach sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen wurde mal mehr, mal weniger gestillt. Ich wurde zum absoluten Still-Tiefstand Mitte der 1970er Jahre geboren und gehöre damit selbst zur Generation von Kindern, die tendenziell nicht gestillt wurden. "Das war damals einfach nicht üblich" - diesen Satz haben sicher viele meiner AltersgenossInnen gehört. Es folgte eine Stillrenaissance, die bis heute anhält und gespeist wurde durch eine ökologische Rückbesinnung und neue Natürlichkeit, einher gehend mit der Emanzipation von den strikten, als frauen- und kinderfeindlich angesehenen Vorgaben des medizinischen Personals und anderer Autoritäten. Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Kind war ohne Frage eine Befreiung aus dem engen Korsett medizinisch-patriarchaler Vorgaben, Regeln und Praktiken von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft.
Mittlerweile jedoch hat sich diese Befreiung in ihr Gegenteil verkehrt: Es herrscht Stillzwang! Statt Selbstbestimmung gilt es, Frauen, ob sie wollen oder nicht, über die unzähligen Vorteile des Stillens und die ausschließlichen Nachteile der Flaschenernährung "aufzuklären". Es ist eine neue Dominanz von ExpertInnen zu beobachten, die den Frauen erklärt, was sie zu tun, zu fühlen und zu unterlassen haben, was "natürlich" und "normal" ist - und was nicht. Einher geht diese Expertenorientierung mit einer Traditionalisierung des Mutterbildes.
Am extremsten vertritt dieses die La Leche Liga (LLL), eine internationale Organisation, die in 78 Ländern tätig ist und Beraterstatus bei UNICEF und WHO genießt. Internationale Empfehlungen und Aktionspläne lesen sich wie direkt aus der Feder der LLL geflossen. So empfiehlt die WHO in den ersten sechs Monaten das "ausschließliche" Stillen und darüber hinaus das Weiterstillen (unter Gabe angemessener Beikost) bis zum zweiten Lebensjahr - und darüber hinaus! Das Stillen ist idealerweise durch beide Partner dieser "Stillbeziehung" im gegenseitigen Einvernehmen zu beenden. Die WHO empfiehlt also das Langzeitstillen (LZS) von Kleinkindern, das de facto nur von einer Minderheit der Frauen praktiziert wird. Mich erinnert das fatal an die katholische Kirche, deren Dogmen - etwa zu Verhütung und Sexualmoral - über den Daumen gepeilt 99,9 % der Mitglieder nicht praktizieren.
Die LLL propagiert genau dieses von der WHO empfohlene LZS. In ihrem "Handbuch für die stillende Mutter" ist viel die Rede von biologischen Programmen und natürlichen Verhaltensweisen sowie den Bedürnissen von Baby und Mutter, die - von Natur aus, klar - identisch sind.
Mutter und Kind werden als untrennbare soziale und biologische (!) Einheit angesehen. Da passt kein Blatt zwischen -
Die Mutterrolle wird biologisiert und naturalisiert - und damit die faktische Wahlfreiheit "Brust oder Flasche - oder irgendwas dazwischen?" unterminiert.
Aber was heißt schon Wahlfreiheit? Wer die einfordert ereilt den Ruch des Egoismus - seit je her das schlimmste Stigma, das einem als Mutter in Deutschland aufgezwängt werden kann. "Du willst nicht das Beste für Dein Kind - und ich definiere was das Beste ist! -? Du RABENMUTTER!" Es geht um alles: Die Mutter hat es schließlich in der Hand, ob das Kind gesund bleibt. Wer kann dazu schon 'Nein' sagen?
Im Zentrum der Debatte stehen die dem Stillen zugeschriebenen positiven Gesundheitseffekte. Die Liste ist lang und wird ständig länger, hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Stillen schlau macht und jeder weiß, dass es vor Übergewicht, Allergien und Infektionen "schützt". Stillen werden langfristige gesundheitspräventive Wirkungen für Mutter und Kind zugesprochen. Allein die Länge der Liste der positiven Gesundheitseffekte scheint deren Evidenz zu belegen. Es wird suggeriert, dass statistische Zusammenhänge - in kausaler Ableitung - einen KONKRETEN Gesundheitseffekt haben.
Aber, so ist in den Foren und in der Ratgeberliteratur unisono zu lesen: "Stillen ist ja so viel mehr" - Stichwort: Bindung. Der Mutter wird nicht nur die Verantworung für die gesundheitliche, sondern auch für die psychosoziale Entwicklung zugesprochen, die sie durch das Stillen gezielt determinieren kann. Klar scheint: Wer (bewusst) nicht stillt, nimmt in Kauf, dass sein Kind zum emotionalen Krüppel wird - eben so wie wir Kinder der 70er - die lost generation, klar!
Die Debatten in den Mütterforen - beispielsweise im Stillforum bei eltern.de oder bei stillen-und-tragen.de - gipfeln mitunter in Sätzen wie: "Stillen gehört zum Muttersein dazu. Wer nicht stillen will, sollte sich überlegen, ob man überhaupt ein Kind haben will oder es nicht besser lässt." Puh... in welchem Jahrhundert leben wir nochmal?
Die Ratgeberliteratur hat sich weitestgehend die gerade skizzierte Sichtweise auf Mutter-(Vater)-Kind zu eigen gemacht. Stillen ist der normative Bezugspunkt, selbst in sehr moderaten Mainstream-Ratgebern (etwa aus dem GU-Verlag), in denen es sowohl ein Still- als auch ein Fläschchen-Kapitel gibt, in dem es dann heißt: "Auch wer nicht stillen kann oder will, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben,..." womit natürlich suggeriert wird, dass es durchaus angebracht sein könnte, ein schlechtes Gewissen haben könnte.
Deshalb war ich sehr gespannt, als ich vor Kurzem die Ankündigung las für einen Ratgeber "für Mütter, die nicht stillen wollen oder können" mit dem Titel: "Wie, Du stillst nicht?" Auch wenn gerade kein akuter Bedarf besteht habe ich mir das Buch umgehend bestellt und in einem Rutsch durchgelesen.
In meiner Bewertung beim großen online-Versand werde ich sehr wohlwollend berücksichtigen, dass es dieses Buch überhaupt gibt. Das ist ein Zeichen und ohne Frage schonmal prima. Die Autorin hält sich auch weitgehend an ihren Anspruch, Frauen kein schlechtes Gewissen wegen des Nicht-Stillens machen zu wollen und sie bei ihrem Weg zu unterstützen. Soweit also erstmal alles gut, sowas hat womöglich gefehlt auf dem Ratgebermarkt.
Jetzt kommt jedoch - natürlich - das große ABER: Abgesehen vom Stillen wird hier dann doch die ganze biologistische Mutterideologie verkauft. Tenor: Man braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man nicht stillt. Das nicht. Dafür aber, wenn man die Defizite, die man durch das Nicht-Stillen erzeugt, nicht mit voller Wucht ausgleicht. Sprich: Wenn Du schon nicht stillst, musst Du alles daran setzen, die drohende Bindungsschwäche Deines Kindes zu verhindern. Aus diesem Grund empfiehlt die Autorin Frauen, die nicht stillen das sogenannte Beziehungsstillen, um die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Was das ist? Nun ja, das Kind anzulegen, ohne es zu stillen, also ohne es an der Brust zu ernähren, als Schnullerersatz. Das Stichwort, das die Autorin liefert, lautet: Mutterleibservice. Und den kann nunmal - na, wer errät es? - nur die Mutter leisten:
"Geht man davon aus, dass die Bindung zur Mutter als erste elementare Bindung im Leben eines jeden Menschen alle weiteren prägt, liegt es auf der Hand, dass das vermeintlich positive am Nichtstillen, nämlich als Mutter ersetzbar zu sein, ein großer Trugschluss ist. Ist es wirklich erstrebenswert, wenn andere Personen [aka der VATER] sich gleichwertig um das Kind kümmern können? (...) lesen Sie sich bitte noch einmal 'Die Bedürfnisse eines Babys' durch und verinnerlichen diese. Ideal wäre es, wenn nur Sie am Anfang den Mutterleibservice bieten. Gerade in den ersten Monaten sollten Sie sich möglichst selten länger von Ihrem Kind trennen. Das gilt insbesondere, wenn Sie ihm die Flasche geben."
Wie war das nochmal mit dem Expertentum?
Mir geht es - nur für den Fall, dass ich in den Verdacht gerate - nicht darum, pauschal das Stillen zu verurteilen oder ein Loblied auf die Flasche zu singen. Mich interessiert die öffentliche Diskussion und was sie mit Frauen und Paaren macht. Ich finde, erwachsene Frauen sollten sich selbstbewusst und eigenverantwortlich um ihr Kind kümmern - und die betroffenen Väter ebenso. Mir schwebt vor, dass Frauen und Männer im besten Sinne aufgeklärt an die Sache mit dem Stillen rangehen - wie an alles andere möglichst auch - und sich darüber klar sind, was das eine wie das andere möglicherweise für sie, ihre Beziehung und die Zukunft als Familie bedeutet. Ich möchte, dass Frauen nicht für dumm verkauft werden.
So wie in dem Buch: "Wenn Sie nicht stillen, muss Ihnen klar sein, dass einer von Ihnen - Ihr Partner oder Sie - nachts aufstehen muss, um das Fläschchen zu kochen." Ein Argument, das in Mütterforen immer wieder auftaucht, Stichwort: Flasche geben ist ja so unpraktisch. Warum die im nächsten Absatz genannte Thermoskanne, die man sich anschaffen sollte, um unterwegs eine Flasche zuzubereiten, nicht auch des nachts zum Einsatz kommen kann, bleibt unklar. Vermutlich stört sie die Bindung zwischen Mutter und Kind. Denn diese ist auf jeden Fall eines: magisch!
In Vorbereitung dieses Posts habe ich mich nochmal umgeschaut im WWW und eine kleine Sammlung sehr lesenswerter Artikel und Posts zum Thema erstellt. Bitte sehr:
Nicole Althaus analysiert sehr kurzweilig den Kreuzzug im Namen der Muttermilch und MALMOE geht in "Mein Busen gehört mir" der Frage nach Wie Medizin, Verantwortungsdiskurse und Naturalismus stillunwillige Frauen moralisch erdrücken. Bereits 2009 ist ein Essay im Süddeutsche Magazin erschienen, der mich sehr amüsiert hat und der damals böse in der Stillcommunity diskutiert wurde: Die Nippel der Welt. Auf der Suche nach einer pragmatischen Hebamme, die meine Entscheidung nicht zu stillen "akzeptiert" (soweit sind wir schon...), sprach ich mit der Hebamme, die L1 auf die Welt geholt hatte. Im Laufe des Gesprächs erzählte sie mir, dass sie die Autorin Susanne Frömel betreut hatte und ihren Artikel wirklich gelungen und - oha! - lustig fand. Ich glaube, eine solche Hebamme zu finden ist wie die Nadel im Hauhaufen... Blogposts, die das Thema aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven und persönlicher "Betroffenheit" schildern, habe ich natürlich auch gesammelt: Regenrot schreibt über "Die dunkle Seite der Babyernährung" und greift den bösen Begriff der Stillnazis auf, den Susanne Frömel in der SZ schon benutzt hatte. Glücklichscheitern verwahrt sich gegen allzu übergriffige Fragen zum persönlichen Still- oder Nichtstillverhalten, ebenso wie Dr. Indie. Auch schön: Die Liste der häufigsten und nervigsten Fragen während Schwangerschaft und kurz nach der Geburt.
Hier und hier finden sich Artikel über den Umgang von nicht-stillenden Müttern mit dem gesellschaftlichen Druck, "der auf ihnen lastet", wie man so schön sagt. Frank Furendi, Soziologe an der Uni Kent, plädiert für das Ignorieren von Expertenmeinungen als Basis für die Koexistenz verschiedener Erziehungsstile. Und fuckermothers verwahrt sich in einem offenen Brief an die Nationale Stillkommission gegen den übergriffigen Griff an die Brüste, diskutiert die sich wandelnden Stillempfehlungen und setzt sich mit der Fragwürdigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse auseinander.
Last but not least: Der Lesetip "Der Konflikt" von Elisabeth Badinter, das ich, unmittelbar nach Erscheinen, im Wochenbett mit L2 gelesen habe - eine Zeit, die ich in wunderbarer, entspannter Erinnerung habe, trotz - oder gerade wegen... - meines renitenten Nicht-Stillens.
Melleni
* Sagen wir "praktisch nicht": L1 bekam ca. 10 Tage "die Brust", danach noch ein paar Wochen (weniger werdende) abgepumpte Milch. L2 wurde im Geburtshaus einmal angelegt, das war's.